Größenvergleiche im Arztbrief: Warum sie eine häufige Fehlerquelle sind

Du betrachtest gerade Größenvergleiche im Arztbrief: Warum sie eine häufige Fehlerquelle sind
Schätzfehler kommen bei Ärzten häufig vor – besonders bei Vergleichen mit Alltagsgegenständen ("walnuss-groß"). Aber wie macht man es besser? (Foto: Roquillo@stock.adobe.com)

Größenschätzungen mit Alltagsgegenständen wie „walnussgroße Prostata“ oder „ein-Euro-Stück-großes Ulkus“ sind in Arztbriefen weit verbreitet – aber oft ungenau. Eine aktuelle Studie zeigt: Schätzfehler in der medizinischen Dokumentation sind häufiger als gedacht und können zu Fehldiagnosen führen. Warum Größenvergleiche eine problematische Fehlerquelle in Arztbriefen sind und wie sich diese vermeiden lassen.

Inhaltsverzeichnis

Größenschätzung in der Medizin: Warum Vergleiche mit Alltagsgegenständen problematisch sind

Ob körperliche Untersuchung, OP-Bericht oder Ultraschallbefund: Ärzte benutzen häufig Größenvergleiche, um ihre Schätzungen zu beschreiben. Der medizinische Schreibstil im Arztbrief ist ohnehin oft blumig, jargonlastig und formelhaft. Größenvergleiche mit Alltagsgegenständen fügen sich da nahtlos ein. Die besten (oder schlimmsten) Beispiele:

  • Walnussgroße Prostata
  • Kirschkerngroßer Lymphnoten
  • Stecknadelkopfgroßer Defekt
  • Ein-Euro-Stück-großes Ulkus
  • Eine Kaffeetasse Blut

Das Problem: Nicht nur der Arzt, der die Größe schätzt und auf eine Vergleichsgröße (z.B. die Euro-Münze) überträgt, unterliegt einem Schätzfehler. Auch die „Rückübersetzung“ der Größenangabe durch den folgenden Arzt ist eine Fehlerquelle. Denn nicht jeder hat die gleiche Größe im Kopf, wenn er oder sie „kirschkerngroß“ liest oder „eine Kaffefetasse“.

Dabei ist schon länger bekannt, dass Ärzte Volumina (z.B. Blutverluste, Ergüsse) systematisch unterschätzen. Auch die Größe endoskopisch dargestellter Befunde wie Kolonpolypen können die Untersucher ohne Messinstrumente nicht genau angeben.

Studie zu Größenvergleichen: Ärzte überschätzen sich

Aber wie gut schätzen Ärzte Längen und Flächen ein? Und sind Vergleiche mit Alltagsgegenständen dabei hilfreich? Diesen Fragen gingen die Kollegen Knipps, Fischer und Klenzner nach und veröffentlichten ihre Ergebnisse jetzt im Deutschen Ärzteblatt.

In einem Fragebogen (206 Teilnehmer) sollten ärztliche Kollegen verschiedener Fachrichtungen ihre Schätzfähigkeit unter Beweis stellen. Sie sollten die Größe von Alltagsobjekten schätzen aber auch mit einem Schieberegler metrische Größen am Bildschirm schätzungsweise einstellen.

Das Ergebnis: Sowohl Alltagsobjekte als auch metrische Größen wurden systematisch unterschätzt – im Mittel um ca. 15 %. Geschlecht, Fachrichtung und Berufserfahrung hatten keinen signifikanten Einfluss auf die Genauigkeit.

Männer, Radiologen und Neurochirurgen hielten sich für besonders gute Schätzer

Interessant: Es gab tatsächlich einen statistisch signifikante Unterschied, und zwar bei der Selbsteinschätzung der Studienteilnehmer. Die männlichen Kollegen hielten sich selbst für besonders präzise. Auch Radiologen und Neurochirurgen schätzten sich selbst als besonders treffsicher ein – allerdings ohne entsprechenden Nachweis einer besseren Schätzleistung.

Schätzangaben in der medizinischen Dokumentation: Wann sie sinnvoll sind – und wann nicht

Schätzungen („gering- bis schwergradig“, „klein, mittel, groß“) und Größenvergleiche („kindskopfgroß“) sind Alltag in der Medizin. Doch während Schätzungen in bestimmten Kontexten akzeptabel sind, sollten Größenvergleiche mit Alltagsobjekten eher vermieden werden.

Wann Sie in der Medizin schätzen dürfen

Es gibt Situationen und Befunde, da ist eine Schätzung in Ordnung und Sie müssen nicht unbedingt genau nachmessen. Das spart natürlich Zeit.

Beispiele, wann Schätzungen erlaubt sind:

  • Ein Tumor wird entfernt und anschließend histopathologisch untersucht. Dann wird in der Regel eine genaue Größenmessung vom Pathologen geliefert. Im OP-Bericht kann dann stehen: „…etwa 5 cm großer Tumor.“ oder „golfballgroßer Lymphknoten“.
  • Der Befund lässt sich technisch gar nicht genau messen, zum Beispiel Pleuraergüsse. Hier könnte zwar die Ergusshöhe im sonographischen Bild genau gemessen werden. Das Ergussvolumen kann aber auch mit dieser Messung dann nur geschätzt werden. Relevant für den Patienten ist der genaue Messwert sowieso nicht. Daher ist oft ausreichend: „mittelgroßer Pleuraerguss“.
  • Der Befund ist wenig relevant (Nebenbefund) bzw. die genaue Größe für den Patienten nicht entscheidend. Bei z.B. multiplen, oberflächlichen Schnittwunden nach Autounfall mit Scheibenzertrümmerung muss sicher nicht jede Wunde gemessen werden. Eine Schätzung genügt („ca. 2 bis maximal 5 cm lange Schnittwunden“). Korrekt wäre es, eine Fotodokumentation beizulegen mit Lineal an einer Beispielwunde. Größere, relevante Wunden müssen Sie aber alle einzeln messen.

Alltagsvergleiche in Arztbriefen: Praktisch oder gefährlich?

Größenvergleiche in der medizinischen Dokumentation sind üblich und haben einige Vorteile:

  • Größenvergleiche sind anschaulich: Bei Vergleichen mit Alltagsgegenständen hat jeder sofort ein Bild im Kopf.
  • Man erkennt sofort, dass eine Schätzung vorgenommen wurde, keine Messung. Bei „golfballgroßer Lymphknoten“ im OP-Bericht, weiß jeder Kollege, dass hier nicht gemessen wurde.
  • Gleicher Schätzfehler wie bei metrischen Angaben: Laut der Studie von Knipps und Kollegen schätzen Ärzte Alltagsgegenstände mit ähnlichem Fehler wie metrische Angaben. Es scheint also keinen zusätzlichen Schätzfehler bei solchen Größenvergleichen zu geben.

Es gibt aber auch viele Nachteile von Größenvergleichen in der Medizin:

  • Doppelte Fehlerquelle: Zuerst wird die Größe eines Befundes geschätzt und auf ein Alltagsobjekt übertragen (Fehlerquelle 1), dann muss der Leser dieses Objekt interpretieren (Fehlerquelle 2).
  • Interpretierbarkeit bzw. mangelnde Standardisierung der Alltagsgegenstände: Wie groß ist eine Walnuss? Wie groß ein Kindskopf? Sowohl der befunderhebende Kollege als auch alle Leser des Befundes haben unterschiedliche Vorstellungen der Alltagsgegenstände. Ausnahme: Gut standardisiert sind zum Beispiel die Euromünzen, Tischtennis- und Tennisbälle.
  • Nicht bei jedem Befund fällt einem ein passender Alltagsgegenstand zum Vergleich ein. Was, wenn das Ulkus 3,5 cm groß ist? „Zwei-Euro-Stück-groß“ würde den Befund unterschätzen und „handtellergroß“ ihn überschätzen.

Fazit: Wie umgehen mit Größenangaben?

Die Medizin ist eine Wissenschaft – und Arztbriefe sind wissenschaftlich-technische Dokumente mit Urkundencharakter. Daher müssen Mess- und Schätzfehler soweit möglich reduziert werden. Das Ziel: Die Weitergabe der Informationen in Arztbrief und Befundtexten muss so genau wie möglich sein.

Die Studienautoren schlussfolgern daher selbst: „[…] für Ärztinnen und Ärzte [ist es] ohne Messinstrumente allgemein schwierig, Größen präzise zu visualisieren – unabhängig davon, ob es sich um metrische Einheiten oder Hilfsgrößen handelt.“

Empfehlungen für die Praxis:

  • Physikalische Größen in der Medizin (Wundgrößen, Organgrößen, Tumordurchmesser, Blutverlust usw.) sollten Sie grundsätzlich messen, nicht schätzen.
    Lineal, Messbecher, Schablonen oder Ultraschallmessung – Möglichkeiten gibt es viele.
  • In manchen Fällen sind Schätzungen zulässig z.B. bei Nebenbefunden. Dann sollten Sie die Angaben mit „ca.“ oder „etwa“ kennzeichnen.
    z. B.: „ca. 5 cm lange Narbe“ statt „kleinfingerlang“.
  • Größenvergleiche mit Alltagsobjekten sollten Sie vermeiden, denn Sie erzeugen zusätzliche Interpretationsfehler. Ausnahme: standardisierte Gegenstände und Situationen, in denen eine Schätzung erlaubt ist.

Liste: die schrägsten Größenvergleiche in Arztbriefen

  • Walnussgroße Prostata
  • Kirschkerngroßer Lymphnoten
  • Stecknadelkopfgroßer Defekt
  • Ein-Euro-Stück-großes Ulkus
  • Eine Kaffeetasse Blut
  • Kindskopfgroßer Tumor
  • Erbsgroßer Polyp
  • Dattelkerngroße Wunde
  • Tennisballgroßes Konkrement
  • Pfefferkorngroße Metastase
  • Haselnussgroßes Lipom
  • Bierdeckelgroßes Erythem

Quellen

Dtsch Arztebl Int 2025; 122: 145-50; DOI: 10.3238/arztebl.m2025.0010

Achim Jatkowski

Jahrgang 1984. Ist Arzt und arbeitet am Klinikum Stuttgart.

Schreibe einen Kommentar